Nachberichterstattung – 28. Stuttgarter Kunststoffkolloquium

Das Institut für Kunststofftechnik (IKT) der Universität Stuttgart lud zum 28. Stuttgarter Kunststoffkolloquium ein. Dieses Jahr untergliederte es sich erstmals in eine virtuelle Veranstaltung und in eine Präsenzveranstaltung.

Im virtuellen Teil wurden vom 28. Februar an drei Nachmittagen die herausragenden Forschungsergebnisse zur Kunststofftechnik der Universität Stuttgart in 44 Vorträgen per Live-Streaming in zwei Parallelsessions präsentiert. Diese kamen aus verschiedenen Instituten: dem Institut für Kunststofftechnik (IKT), dem Institut für Materialprüfung, Werkstoffkunde und Festigkeitslehre (IMWF), dem Institut für Flugzeugbau (IFB), dem Institut für Mikrointegration (IFM), den Deutschen Instituten für Textil und Faserforschung (DITF) sowie dem Institut für Konstruktion und Fertigung in der Feinwerktechnik (IKFF).

Die Wissenschaftler*innen zeigten ihre neuesten Ergebnisse, untergliedert in die Schwerpunkte Werkstoffe, Verarbeitung, Faserwerkstoffverbunde, Biokunststoffe, Rheologie, Additive Fertigung und Zerstörungsfreie Prüfung. Sie arbeiten an neuen Möglichkeiten und Lösungsansätzen für die nachhaltige Kunststofftechnik der Zukunft, wie Prof. Christian Bonten in seiner Begrüßung am ersten Tag betonte. Die Resonanz war hervorragend mit über 450 Teilnehmern und zahlreichen Fragen am Ende eines jeden Vortrags. Die Vortragsinhalte sind beim Veranstalter IKT in Form eines Tagungsumdruckes in gebundener oder digitaler Form verfügbar.

Live-Streaming der Fachvorträge beim virtuellen Teil des 28. Stuttgarter Kunststoffkolloquiums

In einer zeitlich getrennten Präsenzveranstaltung am 9. und 10. März 2023 unter dem Leitthema „Klimaneutrales Europa 2050 – Aufgaben der Kunststoffbranche“ trafen sich erstmals wieder nach vier Jahren Vertreter*innen der Industrie mit namhaften Wissenschaftler*innen in Stuttgart.

Am ersten Tag begrüßte Prof. Marc Kreutzbruck vom Stuttgarter IKT die über 170 Teilnehmenden der Präsenzveranstaltung. Als erster Vortragender stellte Dr. Alexander Kronimus, Geschäftsführer Klimaschutz und Kreislaufwirtschaft bei Plastics Europe Deutschland e.V., die aktuellen Daten der Kunststoff-Abfallmassen, und wie diese sich bis 2060 entwickeln werden, dar. Die Formel, wie die Kunststoffbranche Klimaneutralität erreichen kann, lautet: Reduce – Reuse – Recycle plus Biokunststoffe plus Kunststoffe aus CO2. Recycling (sowohl mechanisch als auch chemisch) ist mit bis zu 61 % der primäre Weg, wertvolle Kunststoffe wieder zurück in die Kreislaufwirtschaft zu bringen, so Dr. Kronimus.

Dr. Norbert Niessner, Buchautor des neuen Werkes „Recycling“ aus dem Hanser Verlag und Global Innovation Director, INEOS Styrolution, vertiefte in seinem Vortrag das mechanische und chemische Recycling und erläuterte, dass in Europa heute nur weniger als 20 % der gesamten Kunststoffabfälle recycelt werden. Wie Kronimus sieht auch Niessner keinen Konflikt zwischen mechanischem und chemischem Recycling: „Dort, wo mechanisches Recycling funktioniert, sollte man das auch machen“, so seine Überzeugung.

Prof. Bonten vom IKT Stuttgart beteuerte die Notwendigkeit einer CO2-neutralen Kunststoffbranche, und welchen Beitrag Kunststoffe aus Biomasse leisten können. Im Wesentlichen geht es bei biobasierten Kunststoffen darum, fossile durch nachwachsende Rohstoffe zu ersetzen. Generell warnte Prof. Bonten auch vor falschen Erwartungen an bio-abbaubare Kunststoffe. Seine Philosophie: „Bio-abbaubare Kunststoffe am besten nur in Produkten einsetzen, die zwangsläufig in die Umwelt gelangen. Klimaneutralität erreichen wir nur durch bio-basierte Kunststoffe!“

Im letzten Vortrag des ersten Tages erlebten die Teilnehmer zusammen mit Prof. Bernhard Rieger vom Lehrstuhl für Makromolekulare Chemie der TU München einen begeisternden Vortrag über CO2-basierte Kunststoffe. Prof. Rieger beglückte das Publikum mit einem kleinen Chemieunterricht über chemische Katalysatoren als Schlüssel für die energiearme Nutzung von CO2. So kann CO2 auch als Ausgangsmaterial für Kunststoffe genutzt werden. Er erzählte begeistert, dass er mit seinen Mitarbeiter*innen an der TU München nach langer Suche einen chemischen Katalysator für die Herstellung des Biopolymers Polyhydroxybutyrat (PHB) gefunden hat, so dass dieses vielversprechende Polymer, das er selbst als „Hidden Champion“ bezeichnet, nun auch auf Basis von CO2 synthetisiert werden kann. Prof. Rieger meint: „Massenkunststoff aus CO2 ist möglich.“

Unter der Moderation von Prof. Peter Middendorf vom IFB Stuttgart standen die Referenten am Ende der Vortragsreihe dem Publikum für eine Podiumsdiskussion zur Verfügung. Sie diskutierten über die drei verschiedenen Kohlenstoffquellen Recycling, Biomasse und CO2 für die Zukunft der Branche, wenn Öl, Gas und Kohle nicht mehr eingesetzt werden können. Konsens ist, dass die Politik möglichst europaweite Rahmenbedingungen für das Recycling von Kunststoffabfällen etablieren muss. Werden fossile Rohstoffe verboten oder sehr teuer, werden Kunststoffabfälle mehr und mehr zu einem wertvollen Stoff und landen nicht mehr in der Umwelt.

Podiumsdiskussion der Referenten beim Präsenzteil des 28. Stuttgarter Kunststoffkolloquiums

Das erste reale Zusammenkommen nach langen Pandemiejahren wurde in den Kaffeepausen und beim festlichen Dinner am Abend zum regen Austausch genutzt. Auch die begleitende Fachausstellung, die traditionell das Kunststoffkolloquium umrahmt, wurde gut angenommen. Die teilnehmenden Firmen Tecnaro, SoBiCo, Südpack, Akro Plastic, Herrmann Ultraschall und Konica Minolta deckten ein breites Spektrum vom Materialhersteller über die Verarbeitung bis zum Messequipment für die Bauteilprüfung ab. Mit Cyclize war zudem ein Spin-off der Universität Stuttgart vertreten, das für neue Wege im Recycling steht: Das Gründerteam arbeitet daran, Altkunststoffe als Kohlenstoffquelle für neue Produkte zu erschließen.

Im ersten Vortrag des zweiten Tages legte Dr. Thomas Drescher (Leitung Vorentwicklung und Fahrzeugbeurteilung der Volkswagen AG) dar, wie die Zukunft der Automobile bei Volkswagen aussieht und welche wichtige Rolle dabei grüner Strom spielt. Ein Paradigmenwechsel ist seiner Meinung nach das Konzept der eingesetzten Werkstoffe beim Autobau, bei dem z. B. mehr und mehr Polypropylen, aber auch weniger unterschiedliche Kunststoffe eingebaut werden sollen. Obwohl Kunststoffe im Automobil nur einen geringen Anteil der Treibhausgas-Emissionen des Fahrzeuges darstellen, sind sie für die Kunststoffbranche mit ca. 10 % Volumenanteil ein bedeutendes Anwendungsfeld.

In seinem Vortrag zeigte Dr. Gerrit Hülder (BOSCH Forschung und Vorausentwicklung), wie die verschiedenen Automobil-OEM in den letzten Jahren den Einsatz von Rezyklaten mehr und mehr begünstigen oder gar fordern.  Auch bei Bosch wird – wo möglich – der Einsatz des weniger klimaschädlichen Polypropylens, aber auch das Arbeiten mit Rezyklaten mehr und mehr forciert werden. Auch der Einsatz von biobasierten Kunststoffen sei nicht ausgeschlossen.

Michael Carus, Geschäftsführer des ThinkTanks nova-Institut GmbH, stellte insbesondere die „Renewable Carbon Initiative“ vor. Um bis 2050 Klimaneutralität zu erreichen, müssen Kunststoffe vor allem als Rezyklat im Kreislauf gefahren werden. Er vermutet, bis zu 70 % mechanisches und chemisches Recycling wären möglich. Die restlichen Mengen werden zwangsläufig während Produktion, Sammlung und Recycling verloren gehen und müssen durch biobasierte Kunststoffe (10 %) und CO2-basierte Kunststoffe (20 %) ersetzt werden. Auch Carus ist sich sicher, dass CO2-basierte Kunststoffe „funktionieren“ und gab einen Hinweis auf eine entsprechende Studie aus seinem Haus.

Stefanie Bierwirth vom DIN-Normenausschuss Kunststoffe erklärte, wie die Recycling-Normung eine "Circular Economy" unterstützt. Sie empfahl die freiwillige Anwendung der Normen und den Wunsch der Europäischen Union, mehr Rezyklate zu nutzen. Frau Bierwirth bat die Zuhörer, ihre Expertise in diese Gremien hineinzutragen. Der von ihr betreute DIN-Normenausschuss vertritt die Normungsinteressen auf dem Gebiet der Kunststofferzeugung und Kunststoffverarbeitung durch aktive Mitwirkung in den entsprechenden nationalen, europäischen und internationalen Gremien.

Im weiteren Verlauf des Kolloquiums stellte Prof. Kreutzbruck (IKT) die immer bedeutsamere Recycling-Forschung am IKT dar. Er beleuchtete die Wichtigkeit des Übergangs von der heutigen linearen hin zu einer Kreislaufwirtschaft und sieht das chemische Recycling als einen Recyclingschritt, für den Fall, dass die Werkstoffqualität nicht mehr garantiert werden kann. Beispiele aus dem Hause IKT sind das Recycling des PA12-Altpulvers beim Lasersintern, das werkstoffliche Recycling von silikonbeschichteten Airbag-Abfällen und das Recycling von Schokoladenformen aus Polycarbonat.

Im letzten Vortrag des Tages berichtete Frank Mack, Abteilungsleiter Verfahrenstechnik bei der Firma Coperion, von den Herausforderungen beim mechanischen Recycling. Hier spielen z. B. der Schmelzflussindex, der Verschmutzungsgrad und die Feuchtigkeit des Rezyklates eine wichtige Rolle. Auch ein spezieller Seiten-Feeder wurde vorgestellt, mit dem flakeförmige Recyclingware druckarm kompaktiert in den Doppelschneckenextruder eingeleitet werden kann. Im Anschluss an das Stuttgarter Kunststoffkolloquium lud die Firma Coperion die Gäste für eine Besichtigung ihrer Recycling-Aktivitäten in der Stuttgarter Niederlassung ein.  Dort wurden die verschiedenen Extruder sowie ihre Montage vorgestellt. Darüber hinaus wurde ein Einblick in die verschiedenen Möglichkeiten von maßgeschneiderten Lösungen für Extrudertechnik, Dosierung und Schüttguthandling in der Lebensmittel- und Tiernahrungsherstellung gewährt.

Die Fachausstellung auf dem Kunststoffkolloquium bot Gelegenheit zum persönlichen Kennenlernen

Fazit:

Es ist technisch schon viel geschafft, aber es gibt auch noch Vieles zu tun. Die technischen Herausforderungen werden angegangen und bald gemeistert werden, doch helfen geeignete gesetzliche Regelungen, Unsicherheiten entlang der Wertschöpfungskette zu verringern und schaffen Randbedingungen, unter denen nachhaltig agierende Unternehmen gutes Geschäft generieren können.

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